Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen darf nicht von der Postleitzahl abhängig sein
Nicht nur Herkunft und soziale Lage, sondern auch der Wohnort entscheiden über die Gesundheitschancen von Kindern und Jugendlichen. Das belegt der neue Versorgungs-Report 2015 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO). Für Mandel- und Blinddarmoperationen zeigte sich deutlich: Ob und wann operiert wird, ist regional sehr unterschiedlich. „Wir wissen erst sehr wenig darüber, woher diese regionalen Unterschiede kommen. Das müssen wir ändern, denn die Gesundheitsversorgung unserer Kinder und Jugendlichen darf nicht von der Postleitzahl abhängen. Alle Kinder haben das Recht auf die gleiche, hochwertige Versorgung“, sagte Martin Litsch, designierter Vorstand des AOK-Bundesverbandes auf der Pressekonferenz zum Erscheinen des Reports.
Die Analysen des WIdO basieren auf Daten von AOK-Patienten bis 24 Jahren, bei denen im Krankenhaus entweder eine Mandelentfernung (Tonsillektomie) oder eine Teilentfernung der Mandeln (Tonsillotomie) durchgeführt wurde. Im bundesweiten Durchschnitt lag die standardisierte Operationsrate 2012 demnach bei 37 operierten Patienten pro 10.000 Einwohner. In der Region Ingolstadt lag sie bei 17 je 10.000 Einwohner, während sie sich in der Region Magdeburg mit 66 pro 10.000 Einwohnern auf das Vierfache belief. Ein ähnliches Bild ergab sich bei den Blinddarmoperationen. Für 2012 betrug die bundesweite Operationsrate rund 27 Patienten je 10.000 Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren. Zwischen der Region Schleswig-Holstein Ost mit 13 Patienten pro 10.000 Einwohner und der Rate in der Region Ingolstadt mit 51,8 je 10.000 Einwohner unterscheidet sich die Rate ebenfalls um das Vierfache. „Die hohen Unterschiede zwischen den Regionen können nicht allein medizinische Gründe haben. Vielmehr sind sie ein deutliches Signal, die Indikationsstellung stärker zu hinterfragen“, erklärte Jürgen Klauber, Geschäftsführer des WIdO und Mitherausgeber des Versorgungs-Reports.
Bei den Mandeloperationen wurde im Versorgungs-Report erstmals für Deutschland auch ausgewertet, in welchem Umfang im Vorfeld des Eingriffs die von den medizinischen Leitlinien für bestimmte Mandelerkrankungen empfohlene Therapie mit Antibiotika stattgefunden hat. Faktisch hatten im letzten Jahr vor dem Operations-Quartal 35 Prozent der Tonsillektomie-Patienten nicht eine einzige Mandelentzündung mit Antibiotika-Behandlung. 64 Prozent der Operierten wurden maximal in zwei Quartalen eines Dreijahreszeitraums entsprechend antibiotisch therapiert. „Offensichtlich wurden in einem beachtlichen Teil der Fälle die Möglichkeiten der konservativen Therapie wenig oder überhaupt nicht genutzt“, so Klauber. Laut der aktuellen Leitlinie der Fachgesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde und der Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin sind Tonsillektomien oder Tonsillotomien bei einer Mandelentzündung dann eine therapeutische Option, wenn in 12 bis 18 Monaten mindestens sechs Mal eine eitrige Tonsillitis (Mandelentzündung) mit Antibiotika therapiert wurde.
Um allen Kindern und Jugendlichen die gleichen Chancen zu geben, gesund aufzuwachsen, muss nicht nur der Zugang zur medizinischen Versorgung für alle gleich gut sein. „Gesundheitschancen sind vor allem auch soziale Chancen“, sagte Prof. Dr. Bernt-Peter Robra, Direktor des Instituts für Sozialmedizin und Gesundheitsökonomie von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, der zugleich Mitherausgeber des Versorgungs-Reports ist. „Die Aufgabe, die Gesundheit unserer Kinder zu fördern, ist eine nationale Querschnittsaufgabe. Widmen sollten wir uns beispielsweise der Geißel Übergewicht.“ Viele müssten an der Prävention von Übergewicht mitwirken: Eltern und Familien, Kitas und Schulen, Kommunen, Politik und natürlich das Gesundheitswesen.
Für die AOK gehört Prävention zu ihren wichtigsten Aufgaben. Ein wesentlicher Teil davon ist, das Gesundheitswissen in der Bevölkerung zu verbessern, zum Beispiel über den versteckten Zucker in Lebensmitteln. Doch dieses Wissen weist Lücken auf. „Zwei Drittel der Deutschen wissen nicht, wie viel Zucker sie täglich ungefähr zu sich nehmen. Das hat eine von der AOK beauftragte Bevölkerungsumfrage gezeigt. Vor allem jungen Menschen ist es häufig nicht klar. Angesichts steigender Zahlen bei Adipositas und Diabetes brauchen wir dringend mehr Aufklärung und Transparenz“, so Martin Litsch.
Dr. Karl-Josef Eßer, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), wies auf eine weitere Lücke in der Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen hin, die dringend geschlossen werden muss. Angesichts fehlender Kenntnisse müssten Kinder immer wieder mit Medikamenten behandelt werden, die bisher nur an Erwachsenen untersucht und überprüft wurden. „Auch Kinder haben ein Recht auf sichere Arzneimittel. Doch mindestens 50 Prozent der Arzneimittel, die heute bei Kindern eingesetzt werden, sind nicht für ihre Altersgruppe geprüft. Dieser Mangel gefährdet unsere Kinder“, so Eßer. Schätzungen gingen davon aus, dass in bestimmten pädiatrischen Teildisziplinen wie der Neonatologie der Off-Label-Use sogar bei 90 Prozent liegt.
Trotz des genannten Verbesserungsbedarfs gibt es in Deutschland eine gute Gesundheitsversorgung. Diese muss auch den Menschen offenstehen, die jetzt in Deutschland Schutz vor Krieg und Terror suchen, betonte Martin Litsch. Dafür müssten die Hindernisse beseitigt werden, die Flüchtlingen, Ärzten und Krankenkassen gleichermaßen den medizinischen Alltag erschweren. „Vom Einsatz der elektronischen Gesundheitskarte profitieren alle Beteiligten. Die AOK setzt sich weiterhin dafür ein“, so Litsch.